In den vergangenen Monaten und Jahren wurde sehr heftig über eine Reform des Urheberrechts diskutiert. Konkret geht es darum, dass Plattformen wie YouTube, Twitch und Vimeo für Urheberrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden können. Der Aufschrei ist groß: Ist die Internetkultur in Gefahr?
Ich habe den Konflikt im Laufe der Zeit aus verschiedenen Perspektiven betrachten können. Zunächst war ich ganz auf der Seite der YouTuber, der Influencer, die ihre kreative Arbeit in Gefahr sehen. Die Reddit-Nutzer, die Sorge um ihre geliebten Memetemplates haben. Besonders Satiriker und Parodisten scheinen in eine dunkle Zukunft zu sehen: Denn ein geforderter Filter-Algorithmus von YouTube und anderen Anbietern kann unmöglich oder nur sehr schwer zwischen legalen Zitaten und illegalen Urheberrechtsverletzung unterscheiden. Kaum verwunderlich, denn es handelt sich hierbei stets um eine Gratwanderung.
Falls sich unter euch, verirrte Leser, jemand findet, der mit der Thematik des als “Artikel 13” und “Artikel 17” bekannten Problems nicht vertraut ist, kann ich zum Beispiel dieses Video von Ultralativ oder dieses Video von BYTEthinks empfehlen. Kurz zusammengefasst besteht die Herausforderung darin, dass YouTube sekündlich mehrere Stunden Videomaterial verarbeiten muss, ein Filter wäre dabei so etwas wie ein Flaschenhals, der zudem im Zweifelsfall nicht nur sehr langsam wäre, sondern auch “zensieren” würde, was eigentlich ein legitimes Zitat ist. Die von der EU gestellten Anforderungen sind von Plattformen wie YouTube unmöglich umzusetzen.
Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich mich zunächst ganz auf die Seite dieser Netzwerke geschlagen habe – denn viele Menschen sind inzwischen hauptberuflich Influencer und finanziell und auch ideell von SocialMedia abhängig. Aber muss das sein? Je mehr ich darüber nachdenke, kommt mir der Gedanke, dass sich das Internet vielleicht in eine falsche Richtung entwickelt hat, dass zentralisierte Systeme nicht (nur) Problemen ausgesetzt sind, sondern selbst Teil des Problems sind. In mir begann der Traum des dezentralisierten Internets zu wachsen – der freilich derzeit kaum mehr als eine unrealistische Utopie ist, an dessen Umsetzung aber potenziell jeder teilhaben könnte.
Die Utopie der Dezentralisierung
Große “Contentcreator” also kreative Menschen, die von der Erstellung neuer Werke leben, machen sich derzeit zumeist von YouTube und anderen Dienstleistern abhängig. Dabei haben sie längst das Potenzial eigene Netzwerke auf eigenen Domänen aufzubauen. Man stelle sich vor, dass Netzagenturen wie Instinct3 eine eigene Mediathek verwalteten, auf eigenen Servern mit Millionen von Aufrufen. Sie müssten natürlich selbst die Verantwortung für ihr Material tragen können, wären dafür allerdings auch wesentlich freier, was die Kooperation mit Werbepartnern angeht. Eine solche Mediathek würde täglich hunderttausende Aufrufe generieren können und gegebenenfalls sogar lukrativer sein als YouTube-Kanäle mit Google als Mittelmann.
Es würden sich vermutlich viele dieser “Mediatheken” oder Zusammenschlüsse bilden, die untereinander verlinkt auch von verschiedenen Reichweiten profitieren würden. Jedes Netzwerk hätte einen festen und bekannten Kreis an Mitarbeitern, kann die eigenen Inhalte gezielt kontrollieren – und zudem auch ganz individuelle Designs entwickeln. Vielleicht würde sich eine “Trending” Website etablieren, die über verschiedene Crawler oder andere Technologien ermittelt, auf welchen Websites gerade die interessantesten Inhalte zu finden sind. Aber der zentralisierte Massenmedienspeicher Google würde nicht mehr in Erscheinung treten,
Aufstrebende, kleine Künstler müssten sich natürlich auf andere Weise etablieren. Das kann Vorteil und Nachteil zugleich sein. Auf der einen Seite gibt es keinen YouTube Algorithmus mehr, der wie ein Wunder oder ein Engel wirkend, das eigene Video in die Empfehlungen packt – auf der anderen Seite kann YouTube auch nicht mehr zensierend wirken, wenn es um sensible Themen wie Sexualität, Gewalt oder Politik geht. Neue kreative Menschen können sich deshalb auch mit Thematiken befassen, die fern der “Werbefreundlichen” Dimension liegt.
Kreative Menschen, bzw Personen des öffentlichen Lebens müssen mit der Bürde leben, nicht mehr so anonym zu sein wie es Mediengiganten wie YouTube derzeit ermöglichen. Wer im Deckmantel der Anonymität über solche Netzwerke Hassrede und Hetze verbreitet, ist nun auf eine eigene Internetpräsenz angewiesen, die sie im Zweifelsfall enttarnen können oder müssen. Auf der anderen Seite können Künstler im dezentralisierten Internet allerdings auch effektiver auf Urheberrechtsverletzungen gegen ihr eigenes Werk reagieren, da mit der Impressumspflicht sichergestellt wird, dass eine haftbare Person für die Urheberrechtsverletzung geradesteht.
Es gibt unzählige weitere Vorteile – natürlich immer auch Herausforderungen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Aber gerade das Internet des 21. Jahrhunderts bietet alle Gelegenheiten und Chancen, sich von zentralisierten Dienstleistern zu distanzieren. Es brauch nur einen Anfang, einen ersten Schritt; vielleicht sogar als Reaktion auf die kommenden Filter bei YouTube und co. Ich kann nur die Empfehlung aussprechen, mitzumachen, einen Unterschied darzustellen. Baut euch persönliche Websites anstelle eines Google/ Facebook/ Instagram Profils!
Ein unmöglicher Traum?
Natürlich ist all dies leichter gesagt als getan und noch leichter geschrieben als gesagt. Es gibt unzählige Faktoren, mit denen YouTube und andere zentralisierte Dienstleister ihre Vormachtposition absichern konnten. Sie gelten als “To big to fail,” Haben sich in den letzten zehn Jahren etabliert und die Gestaltung der Internetkultur massiv beeinflusst. Die Ära der persönlichen Websites ist lang vorbei – die damalige Dezentralisierung galt mit Aufkommen von Sozialen Netzwerken als rückständig. Wer braucht einen eigenen Internetauftritt, wenn es Facebook und Co gibt? Es geht bequemer, einfacher und zudem auch noch kostenlos! (Zumindest bezahlt man nicht mit Geld, sondern mit Daten.
Auch Werbepartner haben sich auf diese neue Situation eingestellt. Google bietet mit seinen Analyseoptionen sehr wertvolle Statistiken, die nicht jeder bieten kann. Die Werbeeffektivität ist ein wichtiger Faktor für Agenturen – und die besten Angaben dazu, wie effektiv welche Werbung ist, liefert nun mal YouTube. Es ist schwer, einen Wandel herbeizurufen in einem System, das bereits sehr eingesessen ist.
Natürlich, würde in einem fiktiven Szenario eine bedeutsame Agentur wie Instinct3 den Entschluss fassen, auf eigenen Servern zu hosten besteht zumindest eine Chance, dass mit der Zeit die Werbepartner der Agentur auf diesen Zug aufspringen, besonders wenn aus diesem Szenario ein paar nachvollziehbare Interaktionen hervorgehen. Allerdings wäre das Risiko für eine Agentur derart groß, dass es hochgradig unwahrscheinlich ist, dass dieser Weg aus freien Stücken eingeschlagen wird.
Den Zwang als Chance verstehen
Es ist relativ wahrscheinlich, dass die kommenden Reformen das Internet wie wir es kennen durchaus nachhaltig verändern werden. Die Veränderung als Risiko und Gefahr zu sehen ist vielleicht fatal, denn sie bietet auch Chancen und Perspektiven. Es wäre schade, wenn wir als Internet eine Opferrolle einnehmen würden und der Politik mit Frust begegnen. Die Europäische Union nimmt uns nicht das Internet weg, sondern gibt uns eine Gestaltungsrichtlinie, an die wir uns aus nachvollziehbaren Gründen zu halten haben.
Sie ist keine Zensur, denn vielmehr eröffnet sie uns Chancen zeitgleich auf ein besser verteiltes und strukturiertes aber vor allem auch auf ein diverseres Internet. Sie ermöglicht uns Nutzern, eine gezielte Suche nach Inhalten, ohne dass wir uns von Google oder Facebook abhängig machen müssen. Gleichzeitig bietet sie klare Regeln, die nicht zuletzt auch Kulturschaffende schützen und das Urheberrecht und den Datenschutz weiterentwickeln können.
Mit der Zeit wird sich vielleicht eine ganz neue Mentalität des Internets bilden, in welcher Gestaltungsfreiheit und wahre Kreativität höher gehalten wird als diffuse Reactingvideos. In denen sich wahrer Mehrwert von dem abgrenzen können wird, was sonst ohne Sinn und Verstand in den “Trending” Pages erschienen ist. Jeder von uns hat nun die Wahl, ob er den Kopf in den Sand stecken oder Teil einer Veränderung sein will.