In meinem letzten Beitrag im Aerohabit.at habe ich starke Bezüge zu einem in Vergessenheit geratenen Begriff einfließen lassen. Das Halkyonische, der Halkyon. Was sich dahinter verbirgt und warum ich den Begriff in meine Alltagssprache einbaue soll der folgende Beitrag darstellen.
Das “Halkyonische” als Begriff wurde durch den Philosophen und Autoren Friedrich Nietzsche geprägt. – Zugegeben, in diesem Fall von Prägung zu sprechen ist eine bloße Übertreibung, denn nach ihm hat man (wenn überhaupt) das Wort nur im Zusammenhang mit seinen Werken verwendet. Es ist also ein erfundener Begriff, welcher nur mit der Philosophie und durch die Philosophie bestand haben kann. Weshalb also ihn verwenden und verbreiten? Warum also den Leser zur Recherche provozieren? Nun, allein deshalb schon, weil die Wortbedeutung wunderbar ist. Weil ein Wort wie dieses im Sprachgebrauch fehlt, um das Erhabene, das Vollkommene, das Perfekte in einem Ausdruck zu vereinen und zu einer höchsten Steigerungsform zu bringen.
Einmal zur eigentlichen Sache: “Halkyon” ist ein griechischer Begriff und bedeutet im Deutschen nicht minder als Eisvogel. Wie kann sich dadurch ein Adjektiv ableiten? Um dies zu ergründen, bedarf es einer kleinen Literaturrecherche. Nicht lang wird es brauchen, um auf den (lang als Fälschung enttarnten) Dialog zwischen Sokrates und seinem Schüler Chairephon über Metamorphosensagen. Also Geschichten über die Verwandung von Menschen in Tiere. Diese Metamorphosengeschichte ist der bekannteste Bericht über Halkyon, allerdings ist er sehr kurz gehalten und Thematisiert den Eisvogel lediglich zu Beginn der Erzählung:
Chairephon: Was für Töne sind das, Sokrates, die fernher […] zu uns herüberschallen? Wie lieblich sie sind! Was für ein Geschöpf kann das sein, das eine so schöne Stimme von sich gibt? Denn alles, was im Wasser lebt, pflegt doch stumm zu sein.
Sokrates: Es ist ein Meervogel, Chairephon, Halkyon genannt, der immer trauert und klagt; ein altes Volksmärchen erzählt von ihm: Halkyone, eine Tochter des Aiolos, Hellens Sohn, wurde in der ersten Blüte der Jugend mit dem schönen Sohn eines schönen Vaters, mit Keyx aus Trachis, dem Sohn des Morgensterns Heosphoros, vermählt, und da sie das Unglück hatte, ihn durch einen frühzeitigen Tod zu verlieren, irrte sie untröstlich auf dem ganzen Erdboden umher, in der vergeblichen Hoffnung, ihn wiederzufinden, bis die Götter sie schließlich aus Mitleid in diesen Vogel verwandelten, in welcher Gestalt sie nun in allen Meeren herumfliegt und den geliebten Gatten sucht, den sie auf der Erde nirgends hatte finden können.
Lukian, Sämtliche Werke. Mit Anmerkungen. Nach der Übersetzung von C. M. Wieland bearbeitet und ergänzt von Dr. Hanns Floerke. Fünfter Band. München/ Leipzig 1911, S. 1 f.
Etwa 200 bis 300 Jahre später veröffentlicht Ovid im elften Buch seiner “Metamorphosen” eine Erzählung, die um s vieles detaillierter ist als die bekannte Sokrates-Erzählung. Sie erzählt von Keyx, der sich im jugendlichen Übermut auf eine Seefahrt einlässt; Von der liebenden Alkyone, die ihn anfleht, daheim zu bleiben. Dieses Flehen ist bereits so voller Verheißung und ungekannter Schönheit, dass es auch in diesem Beitrag seinen Platz finden soll:
[…] Ihr rieselte, wie sie es hörte, Frost durch Mark und Gebein, und dem Buchsbaum ähnliche Blässe deckt ihr Gesicht, und ein Strom von Tränen benetzte die Wangen. Dreimal hebt sie an, dreimal hemmt Weinen die Rede;
Dann, von Schluchzen gestört in den zärtlichen Klagen, beginnt sie: “O, was hab’ ich getan, dass so dein Sinn mir entfremdet, Teuerster? Wo ist die Sorge um mich, die früher du hegtest? Sorglos kannst du dich sovon Alkyone trennen und fern sein; Weit weg strebst du zu gehn; ich bin awesend dir lieber! […]
Lieber Gemahl, und wenn du bestehst zu sehr auf der Reise, lass auch mich mitgehen. Dann fahren wir doch miteinander, und mich erschreckt nur wahre Gefahr, und wir tragen gemeinsam, was auch kommt, und treiben zugleich auf der Meerflut.”
Ovids Metamorphosen, übersetzt von Reinhard Suchier, 3. Theil. Stuttgart 1858 Vers 420ff
Die gesamte Metamorphosengeschichte des Ovid ist erfüllt von Ausdrücken der tiefsten Verbundenheit, der Treue und der Liebe. Eine echte Literaturempfehlung, wenngleich man sich zunächst etwas auf die Sprache der Lateinübersetzung einlassen muss.
Es wird auch ausführlich geschildert, wie Alkyone für das Heil des Keyx zu den Göttern betet, als dieser schon längst auf seiner Seefahrt zu Tode gekommen ist. Die Götter empfangen die Gebete der Alkyone und beschließen, ihr vom Tod ihres Gemahls zu berichten. Der Traumgott Morpheus erscheint der Alkyone in Form ihres Gatten Keyx, nackt und leblos um von dessen Tod zu berichten.
Am Morgen nach diesem Traum begibt sich Alkyone zum Strand, zu jener Stelle wo sie ihren geliebten das letzte Mal gesehen hatte, bevor er sich auf die Seefahrt begeben hat. Am Strand erblickt sie einen Leichnam auf den Wellen treibend und noch bevor sie erkennt, dass es sich um keinen anderen als ihren Keyx handelt, beginnt sie zu trauern. Als sie erkennt, dass es der leblose Körper ihres Geliebten ist, der auf den Wellen treibt, klettert sie auf eine Klippe und stürzt sich in die Fluten. Es ist bei Ovid nicht ganz klar, ob suizidale Absichten die Alkyone getrieben haben – oder ob sie bereits die Gewissheit hatte, welches Wunder mit ihr geschehen würde.
Fast noch beeindruckender als das Flehen der Alkyone, welches wir eben gelesen haben erscheint hier die poetische Mannigfaltigkeit, mit welcher die Trauer und das Leid der Liebenden geschildert wird. Auch diesen Auszug möchte ich einmal umfassend zitieren. Es beginnt im Vers 710 direkt an jenem Morgen, nach welchem Morpheus der Alkyone im Traum erschienen war:
Frühzeit war’s: sie geht aus dem Haus an den Strand und besuchet harmvoll wieder den Ort, von wo sie dem Fahrenden nachsah. Während alldort sie verweilt und sagt: “Hier löst’ er die Taue, hier an diesem Gestade empfing ich des Scheidenden Küsse!” und sich erinnert genau, was alles geschehn, und hinausschaut über das Meer, da wird sie von weitem gewahr in den Wellen etwas das wie ein Leib aussah, und unklar im Anfang war’s was das wohl sei.
Wie näher die Flut es herantrieb und es, obschon noch fern, doch sichtbar geworden als Leichnam, schaute sie bang geschreckt den Ertrunkenen, ohn’ ihn zu kennen.
Gleich als weinte sie nur um den Fremdling, sprach sie: “Du Ärmster, wer du auch seist und wofern du ein Weib hast!” Schwimmend im Wasser kommt stets näher der Leib. Je mehr ihn jene betrachtet, desto minder bleibt ihr Besinnung. Dicht an das Ufer sieht sie ihn jetzo geschwemmt; schon kann sie ihn deutlich erkennen: Keyx war’s.
“Er ist’s!” ruft jammernd sie aus und zerreißt sich Antlitz, Haare zugleich und Gewand, und die zitternden Hände streckt sie nach Keyx aus und spricht: “So, teuerster Gatte, so, Unglücklicher, kehrst du zu mir!”
Von Händen gebildet liegt an den Wogen ein Damm, der dem Zorn ankommender Meerflut Einhalt tut und den Druck der Gewässer ermüdet im voraus. Dort springt jene hinauf, und – seltsam, dass sie es konnte – fliegend zerteilt sie die Luft, und mit eben erwachsenen Schwingen streicht an den Wellen sie hin als mitleidenswürdiger Vogel. Während im Fluge sie schwebt, lässt klagende Töne dem Schmerzlaut ähnlich vernehmen ihr Mund, der klappert mit spitzigem Schnabel.
Wie sie berührte darauf den stummen und blutlosen Leichnam und an den teuersten Leib anschmiegte das neue Gefieder, küsste sie ihn umsonst mit dem kalten gehärteten Schnabel. Ob das jener Gefühlt, ob sich von der Welle Bewegung scheinbar hob sich sein Gesicht, nicht wusst’ es die Menge; doch Keyx hat es gefühlt.
Mitleid rührt endlich die Götter, und beide wandeln in Vögel sich um. Die gleiches erleidende Liebe blieb auch da, wie zuvor, und gelöst wart auch bei den Vögeln nimmer der ehliche Bund. Sie paaren sich, werden zu Eltern und in der frostigen Zeit sitzt sieben beruhigte Tage brütend Alkyone da in dem Nest, das schwimmt auf den Wogen. Dann ist sicher die Fahrt; dann lässt gehüteten Winde Aiolos nicht aus der Haft und gewährt Meerstille den Engeln.
Die sah irgend ein Greis umher auf der Weite des Meeres fliegen und pries die getrei bis zum Ende bewahrete Liebe. Einer, der nahstand, sprach, vielleicht auch sprach es der selbe: “Der auch, welchen du siehst hinfliegen mit schmächtigen Beinen über die See” – und er wies auf den langgehalsten Taucher – “stammt aus königlich Blut”
Ovids Metamorphosen, übersetzt von Reinhart Suchier, 3. Theil. Stuttgart 1857, Verse 710-754
Es ist schon verwunderlich, dass sich trotz dieser wunderbaren Geschichte der Halkyon keiner großen Bekanntheit oder Beliebtheit erfreut. Dieses Privileg und diese Freude am Halkyonischen soll nicht nur Nietzsche und Nietzscheaner vorbehalten sein! Denn die Geschichte des Halkyon und die Ableitung des Halkyonischen ist so fabelhaft, dass beides – nur bitte nicht inflationär – Verbreitung finden sollte!
Der Gegenwart und dem Mitgefühl der griechischen Götter, die diese Spezies ins Leben gerufen haben, verdankt nicht nur die Alkyone dass sie ihr Versprechen zu Keyx einlösen konnte “Wir tragen gemeinsam, was auch kommt, und treiben zugleich auf der Meerflut.” Sondern wir verdanken dieser Liebe das Halkyonische, genauer: die Halkyonischen Tage, welche auf den griechischen Inseln zumeist ende Januar für ein ruhigere Wetterverhältnisse sorgen.
Dass nun ausgerechnet die Brutzeit des Halkyons mit ruhigem Wetter versehen wird, kann desweiteren auch auf Alkyones Vater Aiolos zurückgeführt werden: Aiolos ist der von Zeus eingesetzte Windgott der nun mit den Halkyonischen Tagen auch für seine Enkel Sorge tragen kann. Es schließt sich somit ein ganzer Kreis von Erzählungen im Rahmen dieser Metamorphosengeschichte.
Ein Fazit – Eine Aufforderung
An dieser Stelle muss eine solche Zusammenfassung nicht enden. Denn wie bereits zu Anfang erwähnt, war es kein anderer als der Philosoph Nietzsche, der das Halkyonische für sich entdeckt und verbreitet hat. Doch sehe ich meine – und unsere! – Aufgabe darin das Halkyonische neu zu entdecken und dabei können wir uns getrost auf die Geschichten des Ovid oder den gefälschten Sokrates Dialog berufen.
Nietzsche hat in seiner Interpretation des Halkyonischen nichts falsch gemacht, mir gefällt seine Verwendung des Begriffes sehr gut und ich kann nur dafür werben, sich auch mit den Schriften des Nietzsche auseinanderzusetzen. Doch benutzt er diesen Begriff zumeist lediglich, um eine Vollkommenheit auszudrücken, für eine “sonnige Helle, Ferne, Weite und Gewissheit.” (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. KSA Bd. 5 München/ Berlin/ New York 1988, S. 159) Das ist zunächst alles andere als falsch – aber eben weitaus weniger, als diese Geschichte mitbringt.
Das Halkyonische kann viel mehr als universelles Beispiel für das Leichte im Schweren, das Gute im Schlimmen, das Schöne im Hässlichen sein – Es kann Träger großartiger Lieber Euphorie oder als Symbol der Ewigkeit gelten. So wie mir das Halkyonische widerfahren ist, soll es euch – verirrte Leser – nun auch widerfahren können. Meine Aufforderung lautet: Sucht euren Halkyon – und habt ihr ihn gefunden, so lasst ihn weiterziehen, sodass ihm die gleiche Ewigkeit zuteil werden kann, wie es Ovid in seinen Dichtungen beschrieben hat.
315 Jahre “Alcione”
Ganz zum Abschluss möchte ich die Gelegenheit nutzen, um auf einen besonderen Jahrestag hinzuweisen: denn zum 315. Mal jährt sich genau heute, am 18. Februar, die Uraufführung der “Alcione” von Marin Marais (Libretto: Antoine Houdar dé la Motte) – der bereits vor weit mehr als 100 Jahren vor Nietzsches Geburt die literarische Vorlage des Halkyon für sich entdeckt und musikalische umgesetzt hat.
Es lässt sich vielleicht Argumentieren, dass Marais zwar die Ovid- Geschichte der Metamorphose gekannt und umgesetzt hat, jedoch nicht das halkyonische als solches so genau herauszustellen wusste, wie es Nietzsche tat. Diese Einschätzung möchte ich allerdings dem Individuum überlassen.